Hugo Scheu Museum: Zuhause einer Nation

Ein preußischer Gutsbesitzer sammelt Alltagsgegenstände aus Klein Litauen

Text and Fotos von Annika Kiehn, Juni 2022

Ein bisschen sind wir alle noch Jäger und Sammler, ist es nicht so? Die schönen Dinge, wen reizen sie nicht. Und wenn wir ihrer überdrüssig werden, oder einfach nur Geld brauchen, und unsere Schätze weitergeben, indem wir sie online oder auf dem Flohmarkt verkaufen, fügen wir  unser Quäntchen dazu, den ewig währenden Austausch von Dingen und Gütern am Laufen zu halten. Manche davon halten sich hartnäckig im Kurs, gewinnen sogar an Wert im Laufe der Zeit. Der Deutsche Gutshaushausbesitzer Hugo Scheu war in einem angenehmen Grad besessen von alltäglichen Dingen der Ostpreußischen ländlichen Lebensweise. Dank seiner Sammelwut können wir heute in dem von ihm einst gegründeten Museum erfahren, wie die Menschen im 18. Jahrhundert in Klein-Litauen gelebt haben.

Das Auge eines Fremden leuchtet eine ungewohnte Kulisse aus wie eine Taschenlampe einen dunklen Raum. In meinem Fall waren es nahezu zwei Dekaden der Abwesenheit, die meinen Blick für meine Heimat geschärft haben, sodass ich diese nun, als Journalistin, ganz neu für mich entdecke. 

Nach dem Prinzip der mündlichen Weitergabe von essenziellem Wissen – habe ich Geschichten eingesammelt auf den Dörfern, habe den Alten zugehört, wenn sie unter Tränen erzählten, wie sie als Flüchtlingskinder in diesen Landstrich kamen und den Zugezogenen, warum sie sich in diesen Landstrich verliebt haben. Ich wollte verstehen, wer mit mir in diesen Gefilden lebt. Ich begann, mich für lokale Handwerker und Künstler zu interessieren und sammle seither deren Werke. Die Freester Fischerteppiche sind dabei wohl das Kurioseste, was mir untergekommen ist. Seit nahezu einhundert Jahren werden an der Ostseeküste nahe Greifswald die Freester Fischerteppiche geknüpft, 60.000 Knoten auf einen Quadratmeter. Ich war baff, als ich davon erfuhr. Und noch baffer, dass ich nicht längst darum wusste. 

Als leidenschaftliche Flohmarkt-Gängerin habe ich einen angeborenen Jagdtrieb, Schönes und Seltenes zu finden. Als ich mal einen Artikel über die schwedische Stadt Göteborg schrieb als Secondhand-Paradies, war ich begeistert, als mir Einheimische erzählten, dass sie sich stets bemühen, an bestimmten Tage früher von der Arbeit loszukommen, um noch ein Schnäppchen zu machen. Diese schwedische Lebensart ist dabei mittlerweile sogar ins Visier der Wissenschaft an der Universität von Göteborg gerückt. Dort erfuhr ich von einer spannenden These: Dass die intensive Flohmarktkultur quasi ein Museum des Alltags sei. Weil die Menschen stets an bestimmten Dingen  ein besonderes Interesse haben, die immer weiter zirkulieren, trage dies dazu bei, dass sich auf diese Weise kulturelle Schätze herausbilden, wie etwa von bestimmten Porzellanmanufakturen oder Möbelstücke. Dieser Tage erlebt Vintage ihre Renaissance und altes wie ein VW LT, ein Simson-Motorrad oder eine Hasselblad Kamera werden zu astronomischen Preisen gehandelt. 

Der ostpreußische Arzt und Landwirt Hugo Scheu hatte sich mit seiner Sammelleidenschaft dem Bewahren einer ganzen Kultur verschrieben, der er einst ein eigenes Museum widmete. In seinem ehemaligen Gutshaus in der kleinen Stadt Šilutė können wir diesen Schatz noch heute entdecken, und erfahren, was Hugo Scheu am Landleben im einst Klein-Litauen des 18. Jahrhunderts fasziniert hat.

Geboren 1845 in der früheren Stadt Memel, die inzwischen als Klaipeda bekannt ist, wuchs er als Sohn einer wohlhabenden Familie auf. Sein Vater hatte als Händler ein Vermögen gemacht. 1889 kaufte er von dem Geld das Gut Adlig Heydekrug in der heutigen Gemeinde von Šilutė. Als junger Mann wurde Hugo Scheu von seinem Vater als Verwalter des Guts eingesetzt. In dieser Position nahm der bis dahin in der Stadt lebende Hugo Scheu hautnah am täglichen Leben der „einfachen“ Landarbeiter teil. Mit der Zeit entwickelte er dabei eine Affinität für eine bescheidene Lebensweise, die jedoch zu seinem Erstaunen so reich an Traditionen war.

Dies änderte sich schlagartig, als Ende des 18. Jahrhunderts die Industrielle Revolution einsetzte und nachhaltige Veränderungen mit sich brachte. Das Leben in der Stadt erschien den Menschen nun attraktiver, die Arbeitszeiten dort überschaubarer als auf den Gütern, wo die Tage oft bis in die Nacht hinein dauerten. Wie überliefert ist, nahm Hugo Scheu diese Entwicklung mit Bedauern wahr. Er sah voraus, dass diese neue Moderne die alten Traditionen verdrängen würde, dass bestimmte Dinge nicht weiter notwendig sein würden.

Aus dem inneren Wunsch heraus, diese untergehende Epoche teilweise zu konservieren, begann er Dinge aus dem Alltag zu sammeln: Stühle, Tische, Kerzenhalter, Schränke, Betten, Mützen, Schürzen, Kochutensilien, Kleider, Schuhe und so weiter. Auch alte Dokumente wie Karten, Bücher und Notizbücher bewahrte er auf. Für seinen stetig wachsenden Fundus stellte er schließlich zwei Räume im Untergeschoss seines Gutshauses zur Verfügung und etablierte dort ein kleines Heimatmuseum der preußisch-litauischen Lebensweise. Als Mitglied diverser wissenschaftlicher Verbände war es ein Leichtes für ihn, die großen Gelehrten für seine Sammlung zu begeistern, die auch als Multiplikatoren für sein Projekt nützlich waren.

Im Museum erfahren wir, dass Hugo Scheu ein angesehener Mann war, der die humorig, freundliche Art zu leben schätzte, und damit unter seinen Zeitgenossen äußerst beliebt war. Er war neugierig, und was auch immer anpackte, er machte es mit vollem Einsatz. Seine Sorgfalt ist es, die sein Werk ausmacht und daher als eine seiner stärksten Charaktereigenschaften gesehen werden kann.

Dank seines Gespürs fürs Außergewöhnliche und für schöne Alltäglichkeiten kam eine Sammlung zustande, die rund 60.000 Exponate zählt. Scheu’s energischer Wille, die von ihm so geschätzte Lebensart für die nachfolgenden Generationen zu bewahren, machte ihn unbeabsichtigt zum Ambassador für preußisch-litauische Folklore. Darüber hinaus trug Hugo Scheu eine beachtliche Sammlung von antiken Bücher zusammen, die er später der Universität von Kaunas vermachte.

Das Gutshaus steht bis heute als Abbild seiner Passion. Immer wieder restauriert, verzückt es mit seiner strahlend pastellblauen Fassade seine Besucher. Bei einer geführten Tour können Manfred Achtenhagen und ich mit eigenen Augen Hugo Scheu’s Liebe zum Detail wahrnehmen. Ebenso begeistert scheinen die Museumsangestellten, die diesen Schatz verwalten und uns mit Hingabe von seinem Erbe erzählen. „Hugo Scheu war der Erste, der in der Region von Klaipeda ein Museum eröffnet hat. Andere Museen in Litauen wären hocherfreut, wenn sie so ein facettenreiches und umfangreiches  Archiv unserer Kultur vorweisen könnten.“

Ein weiteres Highlight ist die Hall of Frescos: Wandzeichnungen von Landschaften, in zartem Pastellfarben, die jahrelang unter mehreren Lagen Tapeten versteckt waren, offenbaren sich wieder als Schmuckstücke für Besucher und Gäste. Die romantischen Sujets, von denen niemand weiß, wer sie gemalt hat, kommen nun bei Trauungen oder kleinen Veranstaltungen als eyecatcher zur Geltung. 

Nachdem Hugo Scheus Frau nach der Geburt des dritten Kindes verstarb, zog er seine Kinder allein groß. Für das Museum und das Gutshaus brechen dunkle Zeiten an, als Scheu 1937 verstirbt und sein Enkel Werner Scheu das Gut verlässt, um in Deutschland zu leben. Haus und Sammlung leiden unter der sowjetischen Besetzung. Im Februar 1945 hält der neue Manager Martynas Toleikis fest: „Die meisten Exponate liegen auf dem Fußboden verstreut, vermischt mit Müll.“ Einem glücklichen Umstand ist es zu verdanken, dass Martynas Toleikis zum Direktor des Ethnografischen Museum ernannt wird und die Anlage des ehemaligen Guts Heydekrug  in den Besitz der Litauischen Akademie der Wissenschaften übergeht – dies sollte die Wahrung der Sammlung für die Zukunft sichern. 

Die Situation des Museums ist erneut gefährdet, als sich litauische Politiker zunehmend von der Einrichtung abwenden und ihren Erhalt nicht weiter unterstützen. Erst nachdem das Land seine Unabhängigkeit zurückerlangt 1990, wird das Museum im Auftrag der Gemeinde von Šilutė in der gleichnamigen Stadt neu eingerichtet. Darüber hinaus wird ein landesweites Museumsnetzwerk aufgebaut, das die Gemeinden von Bitenai, Sveksna, Zemaiciy, Naumiestis, and Macikai einbezieht, um den Wirkungsgrad zu verstärken. 

Der 30. Mai 2015 markiert den wohl bedeutsamsten Tag für das Hugo Scheu Museum: Das Herrenhaus erstrahlt in frischem Glanz und wird, im Rahmen des Šilutė Stadtfestes, erneut der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Erstmals trägt es nun den Namen Hugo Scheu Museum. Die Eingangshalle begrüßt Besucher mit einem frischen grünen Anstrich und floralem Muster, in den ersten Räumen im Untergeschoss erzählen Exponate von der früheren Stadt Heydekrug und seinen Bewohnern. 

Vielleicht aufgrund seiner Liebe zur Region wurde Hugo Scheu in späteren Jahren als Landrat einbestellt. Sein nahbares Naturell und seine Zugewandtheit zu den Arbeitern, so erfahren wir, hatte ihm bereits als Gutsverwalter einen guten Ruf eingebracht. Mit seinem achtsamen Gemüt war Scheu stets auf das Wohl seiner Angestellten bedacht und so gewährte er ihnen jeweils ein Stück Land, das sie in Eigenregie zur Selbstversorgung bestellen durften. Auch in der Stadt verewigte er sich mit seiner Zuneigung für die Menschen in dem Bau der Kirche, des Krankenhauses und einer Feuerwehrstation.

Angesichts der schwierigen politischen Gegebenheiten, denen die Region um Šilutė herum ausgesetzt war, ist der Nachlass von Hugo Scheu eine wundersame Reise in die Vergangenheit, als schwerwiegende gesellschaftliche Umbrüche noch nicht abzusehen waren. Das Museum mag dem modernen, digital geprägten Mensch ein wenig aus der Zeit gefallen vorkommen. Leider wird die Leidenschaft Scheu’s nicht eingehend erklärt, keine Briefe oder Tagebucheinträge, keine direkten O-Töne seinerseits, die belegen, wo genau seine Nostalgie herrührt. War es einfach ein Spleen, der keiner weiteren Erklärung bedarf? Vielleicht kann ich es so stehenlassen.

Im Zuge der aufkommenden Digitalisierung, die unser Leben noch in einem unbekannten Ausmaß verändern wird, frage ich mich manchmal, was ich für meine Nachkommen aufbewahren sollte. Meine alten Kinderbücher aus DDR-Zeiten scheinen mir altbacken, die Sprache darin nicht zeitgemäß. Dennoch tue ich mich schwer, sie endgültig auszusortieren. Es käme mir vor, als würde ich damit einen Teil meines Lebens für immer ausradieren. Zu einem gewissen Grad bin ich skeptisch, was den aktuellen Trend zum Minimalismus betrifft. Diese Art der extremen Verbannung sämtlicher Habseligkeiten, die unser Leben ausmachen, erscheint mir zu radikal. Die reine Besinnung auf das Erleben ist ein Ansatz, der mir durchaus zusagt, wiederum als Secondhand-Fanatikerin würde ich mich ohne die Präsenz von Nippes seelisch leer gezogen fühlen. Wenn wir uns dahingehend erziehen, ohne all das auszukommen, was wird dann aus Handwerk, aus Kitsch und der Freude, die er bringt? Wenn jegliche Art von Besitz nur noch als Ballast empfunden wird – was bedeutet das dann im Umkehrschluss für unsere Seele? 

Öffnungszeiten Museum 

Dienstag–Freitag 10.00–18.00 Uhr
Samstag 10.00–16.00 Uhr
Sonntag und Montag geschlossen

Kontakt

Lietuvininkų street 4, LT – 99185, Šilutė
Eml: info@silutesmuziejus.lt
Pho.: +370 441 62 207

https://www.silutesmuziejus.lt/en/information-for-visitors/

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2022-08-01T21:06:11+02:00

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