Das Paradies in Klein-Litauen
Erinnerungen an ein multi-ethnisches Bauernleben an der Memel
Interview von Annika Kiehn, Juli 2020
Kann ein Mensch für eine ganze Region sprechen? Mit der preußisch-litauischen Bäuerin Lena Grigoleit fand die deutsche Journalistin Ulla Lachauer in den 90er Jahren eine Zeitzeugin für eine längst vergangene Epoche: das multi-ethnische Landleben an der Memel. Wo einst eine imposante Gutsanlage stand, sind heutzutage noch Reste der sogenannten Paradiesstraßen-Route zu sehen, dem früheren Zuhause von Lena Grigoleit. Ihr Schicksal spiegelt das wechselhafte Leben vieler in dieser Region des ehemaligen Preußens wider, das nach dem Ersten Weltkrieg an Litauen ging und 1939 erneut ans Deutsche Reich. Seit dem Ende des Deutsch-Sowjetischen Krieges 1945 gehört das Dorf zur litauischen Gemeinde Pagėgiai. Während die meisten Einwohner nach Kriegsende gen Westen flohen, blieb Lena Grigoleit mit ihrem litauischen Mann und zwei Töchtern. Für den South Baltic Manor-Blog sprach die Autorin Ulla Lachauer über ihre Beziehung zu Lena Grigoleit und wo diese trotz Armut und Angst ihre außergewöhnliche Lebensfreude hernahm.



Die Journalistin Ulla Lachauer
Oben: Als junge Frau bei ihrer Recherche in Litauen. (Foto privat)
Unten: Autoren-Bild aus jüngster Zeit. (Copyright Eva Häberle)

Die litauische Bäuerin Lena Grigoleit führte ein bewegtes Leben in der politisch unsteten Grenzregion an der Memel. (Fotorecht: Winfried Lachauer)
AUFBRUCH NACH KLEIN-LITAUEN
Als ich nicht wusste, worüber ich eine Dissertation schreiben sollte, sagte mein Doktorvater: „Mach doch mal was über Vertriebene, das Thema ist immer so rechtslastig besetzt.“ Und ich dachte: „Ach, dieses Politische, das geht mir schon seit Kindheitstagen auf die Nerven.“ Doch dann stieß ich auf Vertriebene in den Memelländern und fand die Gegend interessant – die Elche, das Litauische, das Russische. Eine verlorene gegangene Zeit, die seit 1945 unter Verschluss des Eisernen Vorhangs war. Ich war voller Klischees. Dass ich selbst mal dort hinreisen würde, hatte ich nicht erwartet. Dann kam Gorbatschow und plötzlich änderte sich alles.
DIE ERSTE BEGEGNUNG
Im November 1988, ich war 38 Jahre alt, kam ich das erste Mal als Journalistin nach Litauen, um einen Film für den WDR zu drehen. Es war die Zeit kurz vor der Unabhängigkeitserklärung und ich ahnte, da tut sich etwas. Wir sind mit dem Taxi illegal ins mit einem Dolmetscher an Bord ins Memelland gefahren, es war ein bisschen Handgestrickt und ins Blaue hinein. Ich wollte nach Bitthenen und Rombinus. Die Werke des litauischen Schriftstellers Johannes Bobrowski waren mein Leitstern. In Litauische Claviere beschreibt er das Zusammenleben der Völker in dieser Mischregion von Polen, Litauen, Russen, Deutschen und Juden.
Damals gab es schon den Nationalitätenkonflikt zwischen Russland und Litauen. Nazi und Nicht-Nazi sind aneinandergeraten. Ich wusste nicht recht, was ich suchte. Am Ende unserer Recherchen, unser Team wollte gerade wieder abziehen, kam ein Mann des Wegs. Ich fragte über unseren Dolmetscher, ob im Dorf noch jemand „von früher“ lebe. „Ja, eine einzige Frau, Lena Grigoleit, dort, wo die vielen Dahlien blühen.“
Wir fuhren zu ihr und da stand diese kleine alte Frau mit strubbeligen Haaren, Gummischuhen und einer Kittelschürze am Zaun und hat geredet und geredet. Damals hatten wir ja nur diese zwölf Minuten Filmröllchen, die ständig gewechselt werden mussten und ich dachte: Meine Güte, was hat diese Frau für ein Schicksal! Eine Deutsche, die 1945 mit ihrem litauischen Mann und zwei Töchtern dageblieben war und nicht im großen Treck nach Westen flüchtete. Später wurde die Familie von den Sowjets nach Sibirien deportiert, nach der Rückkehr 1956 arbeiteten sie und Mann in der örtlichen Sowchose. Ein Leben in Armut und Angst, jahrzehntelang. Sie war voller Erzähllust. Und immer diese russisch/litauischen Wörter, die sie benutzte. Ich dachte, großartige Zeitzeugin, daraus muss ich ein Buch machen!
LITAUENS UNABHÄNGIGKEIT
Von September 1989 bis März 1990 haben wir uns regelmäßig geschrieben. Daraus ist ein ganzes Konvolut an Briefen hervorgegangen, die im Nordost-Institut in Lüneburg verwahrt sind. Ich habe ihr auch Päckchen geschickt mit Sonnenblumenöl, Mohn für Kuchen, Sardellen und Rattengift, was immer sie sich wünschte.
Es entwickelte sich eine sehr innige Beziehung. Am 10. März 1990 kam der Wunsch nach Unabhängigkeit dort an, es war eine sehr angstvolle Zeit – was würden die Sowjets machen, Hubschrauber und Panzer fuhren durchs Land und standen ums Parlament, mit der Aufforderung, sich zu ergeben.
Mit dem Ausweis der Stadtbibliothek habe ich mir Zugang ins Parlament erschafft, es war eine ziemliche beängstigende Situation, als eine von ganz wenigen Frauen unter Männern. Ich bin drei Tage dort geblieben, meinem Mann und meinen Eltern habe ich schließlich per Satellitentelefon Bescheid gesagt, wo ich bin. Es war eine irre Situation, keiner wusste, wie sind die Litauen drauf in ihrem Unabhängigkeitswunsch. Kurz bevor das Ultimatum endete, bin ich mit letzten Flieger außer Landes. Ich konnte Kontakt halten zu Lena, aber es war schwierig, die Post war sehr langsam geworden. Ich habe mir große Sorgen um sie und ihre Familie gemacht. Dann kam der Moskauer Putsch im August 1991 und Litauen war frei. Da bin ich ganz schnell zurück und habe viel Zeit bei Lena verbracht.
LEBEN BEI LENA AUF DEM BAUERNHOF
Als Kind habe ich oft meine Ferien bei bäuerlichen Verwandten verbracht. Vieles auf Lenas Hof erinnerte mich daran. Sie lebte in dem Haus ihrer Eltern, eine total verrottete Bude. Unrenoviert, mit Pökelfass, Plumpsklo und einem großen Garten, den sie zur Selbstversorgung nutzte. Ich schlief in der Knechtskammer, da war es selbst im Frühjahr arschkalt. Wir haben Kugelis gegessen, mit Speck und Schmand,
Von den 28 Hektar Land, die Lenas Familie einst besaß und ihnen enteignet worden war, hatte sie 1991 vom litauischen Staat drei Hektar zurückbekommen. Sie wollte mit ihren 80 Jahren noch einmal eine richtige Bäuerin sein und war froh, dass ich ihr dabei half. Wir haben uns ein Pferd geliehen und barfuß den Acker bestellt. Man musste Beziehungen haben, um an Dinge zu kommen.
Wir haben von Hand Kartoffeln gesetzt, säten Möhren, Rote Beete und am Waldrand ein wenig Mohn. Ich habe die Interviews teilweise klassisch mit ihr am Tisch gemacht, aber am liebsten während der Arbeit, auf dem Friedhof oder abends an der Memel, wo wir oft zusammen saßen. Später vor dem Zubettgehen habe ich dann alles in mein Feldtagebuch geschrieben. Es fühlt sich eher an wie Ferien, zwischendurch habe ich mich immer gefragt: Warum bin ich nochmal hier?
Ich bin dankbar, dass ich die Sinnlichkeit dieser Zeit erleben durfte, das gemeinsame Bangen um die Zukunft. Die baltische Freiheit ist mir näher als die deutsche Wiedervereinigung. An jenem Novembertag, als die Mauer fiel, verfolgte ich die Ereignisse vor dem Fernseher, zusammen mit meinem Vater. Wir weinten wie die Schlosshunde. Und ich hatte wieder einmal den Wunsch, mit ihm über seine Jahre als Soldat in Russland zu reden, aber wir haben diesen Moment nie hinbekommen. Mein ganzes Erwachsenenleben lang hatte mich (wie viele Nachkriegskinder) die Frage gequält, inwieweit er in die Verbrechen der Wehrmacht involviert gewesen war. Bei meinen Reisen in den Osten hatte ich sicherlich im Sinn, dieses Thema aufzuarbeiten, meine Fantasie anzuregen, wie dieser Krieg für ihn gewesen sein könnte, und Mitleid mit ihm zu empfinden.
LENAS PRIVATE SEITE
Ein Satz, der mir von ihr stark in Erinnerung geblieben ist: „Nirgends geht es so bunt zu wie auf der Welt!“ Sie trug eine Grundneugier in sich. Trotz der vielen Schicksalsschläge und der Dunkelheit vieler Momente in ihrem Leben hatte sie sich ein unerschrockenes Naturell bewahrt. Ihre Töchter hingegen, die 1935 und 1940 geboren wurden, sind wesentlich schwermütiger. Sie haben ja auch die Zeit in Sibirien mitgemacht. Besonders Birute, die Ältere, hat sehr gelitten. Lenas Enkel sind noch in sowjetischer Zeit groß geworden und haben die Freiheit nach 1991 nutzen können, eigene Wege zu gehen. Der jüngere der beiden Enkel, Mindaugas, führt mit seiner Familie den Grigoleitschen Hof weiter.
Lena war sehr selbstbewusst. Sie hat ungeniert Wünsche geäußert, weil sie wusste, dass wir in Deutschland alles haben. Sie liebte Mouson-Seife, Spitzen-Taschentücher. Am meisten gerührt hat mich ihr Geständnis, dass sie schöne Nachtwäsche liebt. Im Januar 1995, das Buch war noch nicht fertig, habe ich ihr ein Portemonnaie mitgebracht mit 1500 D-Mark, es war ein Anteil meines Vorschusses. Darüber hat sie sich sehr gefreut. Sie hat mir im Gegenzug ein paar Rubel gegeben, damit ich mir davon eine Bernsteinkette kaufe. Die trage ich heute noch. Lena hat mich an die Region gebunden, mein Mann und ich fahren alle paar Jahre hin, wir sind tatsächlich Teil von Lenas Familie geworden. Es gibt im Dorf Leute, die mich noch immer mit „Ullachen“ begrüßen.
DAS BUCH
Ich bin nicht intellektuell an Lenas Geschichte herangegangen. Ich habe eher versucht, ein Gefühl für ihren Sound zu bekommen. Es war gar nicht so leicht, das Mündliche ins Geschriebene zu übertragen. Ich musste Vokabular neu erschaffen, manche Episoden komplette neu ordnen. Es war eine recht ethnografische Angelegenheit. Ich wollte die Klugheit des bäuerlichen Denkens hervorheben, ich denke, gerade wir Deutschen unterschätzen diese sehr. Das Buch kam 1996 raus, kurz nach Lenas Tod und es wurde überraschenderweise ein großer Erfolg. Ich habe tonnenweise Leserbriefe erhalten. Ein Bänker schrieb mir: „Also dass alte Frau in Kittelschürze so kluge Sachen sagt, bringt einen zum Nachdenken über sein eigenes Schicksal.“
LENAS VERMÄCHTNIS
Lena Grigoleit ist am 22. April 1995 gestorben, sie war die letzte Zeugin einer Welt in der Memelregion, die es nicht mehr gibt. Die Stimmen der Dorfmenschen werden heutzutage viel zu wenig gehört, das macht mich fast zornig. Es werden eher diejenigen geschätzt, die akademisch gebildet sind. Dass das Weltwissen und die Weisheit derer, die sich sprachlich vielleicht nicht so gehoben ausdrücken können und deren Lebenserfahrung so wenig geschätzt wird, macht mich fertig. Meine Verleger haben mir immer wieder vorgeschlagen, ich solle über Prominente schreiben, das reizt mich gar nicht. Die sogenannten „einfachen Leute“ und ihre bäuerlichen Welten wie die von Lena bergen für mich als modernen, städtischen Menschen eine faszinierende Fremdheit in sich, eine gewisse Exotik. Ihr Untergang, ob gewaltsam oder durch den unaufhaltsamen Lauf der Zeit, bewegt mich. Als Enkelin von Bauern stehe ich selbst noch mit einem Bein in dieser versunkenen Welt.